
Kalender
Unternehmertage und -treffen, Seminare, Arbeitskreise, Business Breaks oder Netzwerkveranstaltungen – die nächsten Termine des Unternehmerverbandes sind hier aufgelistet.
Weiterlesen[unternehmen!]: Die Corona-Pandemie trifft gerade Menschen mit Behinderung und ihre Familien besonders. Wo liegen die besonderen Herausforderungen?
Bärbel Brüning: Wenn man auf das zurückliegende Jahr blickt, gab es zahlreiche Herausforderungen. Da waren die Angebote der besonderen Wohnformen, die sich mit aller Kraft engagierten, dass der Virus sich dort nicht verbreitet. Nicht überall gelang das. Auch in Einrichtungen der Lebenshilfen in NRW erkrankten Bewohnerinnen und Bewohner, viele waren infiziert, die meisten hatten nur leichte oder keine Symptome, aber leider starben auch Bewohnerinnen und Bewohner. Traumatische Erfahrungen, die noch viel Zeit zum Verarbeiten brauchen. Aufgrund der zeitweiligen Besuchsverbote kam es für viele Menschen mit Behinderung in den besonderen Wohnformen zu sehr herausfordernden Situationen. Eltern und Angehörige litten unter den Besuchsverboten und -einschränkungen, Menschen mit geistiger Behinderung erlebten, wie Se l b s t b e s t immung, in der sie doch gestärkt werden und die sie zu Recht auch erwarten, kaum möglich war. „…und wir bekamen immer als letzte Bescheid“, sagte eine Selbstvertreterin. Das hat seine Wirkung nicht verfehlt. Gerade in Krisen müssen wir achtsam sein, nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg Entscheidungen zu treffen. Die Menschen mit Behinderung, die so viele massive Änderungen ihres Lebens hinnehmen mussten und noch müssen, zeigen beeindruckende Geduld. Ihre Eltern und Angehörigen leisten mehr als sie ohnehin schon immer machen. Das hat unseren großen Respekt verdient. Umso mehr brauchen sie größtmögliche Unterstützung und Entlastung. Eine weitere Herausforderung war es, die Teilhabe am Arbeitsleben aufrechtzuhalten. Während wir uns im Frühjahr, beim ersten Lockdown, noch für die Schließung der Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) engagiert haben, weil es eine neue – für alle zunächst sehr bedrohliche – Situation war, sind schnell sehr wirksame Hygienekonzepte in den Werkstätten entwickelt worden und es ist gelungen, dass die Menschen wieder zur Arbeit konnten. Teilhabe am Arbeitsleben ist für die meisten Menschen mit Behinderung von großer Bedeutung. Das konnten wir über das gesamte Jahr als Rückmeldung von ihnen selbst erfahren.
Eine Herausforderung für viele Familien war und ist sicherlich auch der Distanzunterricht von Kindern mit Behinderung. Die Impfungen, auch diverse Unsicherheiten bzgl. der Termine, der Impfstoffe und aktuell immer wieder neu zu koordinierender Termine sind vor Ort aktuell ein echter Stresstest.
[u!]: Die Lebenshilfe NRW kritisiert, dass die Belange von Menschen mit Behinderung bei den gesetzgeberischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Folgen nicht selbstverständlich mitgedacht werden. An welchen Stellen hakt es?
Bärbel Brüning: Es hakt leider immer wieder an verschiedenen Stellen. Das beginnt damit, dass Einrichtungen und Dienstleistungen der Eingliederungshilfe nicht gleichzusetzen sind mit Pflegeeinrichtungen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das aber häufig so gesehen. Zu Beginn der Pandemie mussten wir dies auch immer wieder deutlich machen. Zwischenzeitlich ist es etwas besser geworden, doch ist dies leider wohl auch der hohen Zahl der Betroffenen unter den Menschen mit Behinderung und den dann erfolgten Medienberichten zu verdanken. Selbstverständlich ist es noch immer nicht. Auch jetzt müssen wir auf die Situation der Eingliederungshilfe als Dienstleistungssystem einerseits, andererseits aber auch auf die vielen Menschen, die dringend und gerade in Corona-Zeiten auf Familienunterstützung und ambulante Betreuung angewiesen sind, aufmerksam machen.
[u!]: Schon vor Corona hat die Lebenshilfe NRW sich gegenüber der Politik für die Belange der Menschen mit Behinderung eingesetzt. Wo gibt es schon Fortschritte?
Bärbel Brüning: Im Ausbau der ambulanten Wohnangebote hat es große Fortschritte gegeben, hier ist Nordrhein-Westfalen seit vielen Jahren ein Vorreiter und führend im Bundesvergleich. Darauf darf man stolz sein. Nordrhein-Westfalen war auch das erste Bundesland, das den Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Betreuung in allen Belangen abgeschafft hat. Der aktuelle Landtag ist der erste, der auch von diesen Menschen mitgewählt wurde. Hier ist NRW ebenfalls bundesweiter Vorreiter, denn erst 2019 wurde das Bundeswahlrecht hierzu geändert, so dass erstmals überhaupt Menschen mit Betreuung in allen Belangen in diesem Jahr den Deutschen Bundestag mitwählen können. Übrigens geschah das erst, nachdem das Bundesverfassungsgericht diesen Wahlrechtsausschuss für verfassungswidrig erklären musste, nach einer Klage, die von der Lebenshilfe unterstützt wurde. Immerhin zwei Beispiele, in denen Menschen mit Behinderung gestärkt wurden. Auch die in den letzten Jahren entstandenen inklusiven Wohnangebote und Inklusionsunternehmen sind ein Fortschritt. Aber auch hier gibt es noch viel Luft nach oben.
[u!]: Was ist Ihr Appell oder Wunsch gegenüber der Politik?
Bärbel Brüning: Nehmt die Belange der Menschen mit Behinderung endlich wahr und zwar in allen Politik und Lebensfeldern! Von kleinem Kind mit Behinderung bis zum älter werdenden Menschen. Und: Sorgt für eine angemessene Finanzierung
und Absicherung der Arbeit für Menschen mit Behinderung. Wir sprechen hier von rund 20 Prozent der gesamten Bevölkerung und die statistischen Zahlen machen deutlich, dass der Anteil in der Bevölkerung steigt. Nehmen wir ein Beispiel: Der so genannte Behindertenpauschalbetrag, der (erst) zum 1. Januar 2021 erfreulicherweise erhöht wurde und für Menschen mit Behinderung sowie ihre Familien eine steuerliche Entlastung bedeutet. Leider ist diese Änderung aber die erste seit 40 Jahren. Jetzt dürfen Sie sich mal die Inflationsquote dieser Zeitspanne ausrechnen. Menschen mit Behinderung müssen viel mehr als ein selbstverständlicher Teil unserer Ge s e l l s c h a f t wahrgenommen werden. Nach über zehn Jahren Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sind wir nur mäßig vorangekommen.
[u!]: Was sind die besonderen Herausforderungen für die Lebenshilfen vor Ort, also für die gemeinnützigen Unternehmen bzw. Vereine an sich und für ihre Beschäftigten?
Bärbel Brüning: Unsere Mitgliedsorganisationen sind in vielen Bereichen in finanzielle Vorleistung gegangen, um zum Beispiel die Hygienemaßnahmen umzusetzen. Dies bedeutete zum Beispiel Schutzmasken zu beschaffen in einer Zeit, in der die
Marktlage sehr angespannt und mit großen Preisschwankungen verbunden war. Nach wie vor können wir keine endgültige Bilanz ziehen. Vor Ort gab es und gibt es noch Personalengpässe und viele Finanzierungsfragen. Wegen Quarantäneauflagen und Krankheit mussten und müssen noch Dienstzeiten überbrückt werden, die Corona-Hilfen sind nicht für alle Träger zu nutzen, die immer wiederkehrende Unsicherheit, ob Mitarbeitende in ambulanten Bereichen (Schulen,
Frühförderung, Kita-Assistenz, aber auch Inklusionsunternehmen) überhaupt arbeiten dürfen, Kurzarbeit, SoDeG und vieles mehr. Alle sind besonderen Herausforderungen ausgesetzt, die sich niemand hätte vorstellen können. Die finanziellen und personellen Herausforderungen für gemeinnützige Träger wie die Lebenshilfe sind durch die Pandemie und trotz der Hilfen durch Bund, Land und Landschaftsverbände deutlich gestiegen und sind belastend.
[u!]: Im sozialen Bereich gibt es schon lange einen gravierenden Fachkräftemangel. Hat die Corona-Pandemie hier etwas verändert?
Bärbel Brüning: Bis jetzt ist ein großer Teil derer, die bei uns arbeiten, auch weiter sehr engagiert dabei. Aber natürlich machen wir uns Sorgen, ob es bei jetzt schon vorhandenem Mangel noch schwieriger wird, Fachkräfte zu gewinnen. Die Medienberichte während der Corona-Pandemie machen ja deutlich, welchen Herausforderungen die Mitarbeitenden ausgesetzt sind. Dass zudem die Heilerziehungspflege-Ausbildung in NRW bei Ersatzschulen, für die Träger nicht refinanziert ist und die Schülerinnen und Schüler nicht kostenfrei ihre Ausbildung machen können, verstärkt das Problem außerdem. Die Ausbildung muss – so wie es gerade für die Pflegeausbildung erreicht wurde – kostenlos sein und die Bezahlung der Arbeit
muss insgesamt besser werden. Das gilt für den gesamten sozialen Bereich.
[u!]: Spüren Sie und die Beschäftigten in den Lebenshilfen etwas von dem Wandel beim Ansehen sozialer und pflegerischer Berufe in der Pandemie?
Bärbel Brüning: Wenn wir ehrlich sind: Nein. Während monatelang über eine Corona-Prämie für Pflegekräfte debattiert wurde und dann auch teilweise bezahlt wurde, ist unsere Bitte hier auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Eingliederungshilfe einzubeziehen, nicht wahrgenommen worden. Da war auch das Agieren auf Landes- und Bundesebene zugleich am Ende nicht erfolgreich. Immerhin gibt es ja nun die Aussicht, dass die Träger, die die Prämie freiwillig bezahlt
haben, diese noch finanziert bekommen. Das Ganze hat aber von Anfang an zu großer Ungerechtigkeit geführt: Wer konnte, hat eine Prämie bezahlt. Aber viele Träger waren einfach dazu nicht imstande. Die Mitarbeitenden sind seit Monaten oft die einzigen Menschen, mit denen die Menschen mit Behinderung Umgang haben. Sie leisten herausfordernde und manchmal auch belastende Arbeit, aber sie haben sich meisterlich mit voller Kraft und enormer Kreativität engagiert. Da ist Applaus vom Balkon zwar ganz nett gemeint, bringt am Ende aber nichts und das ist beschämend für unsere Gesellschaft.
[u!]:Wie blicken Sie in die Zukunft?
Bärbel Brüning: Wir werden Optimismus und vor allem die nötige Ausdauer behalten. Aber es ist zu befürchten, dass bei knapper werdenden Ressourcen wieder einmal die Schwächsten der Gesellschaft die Leidtragenden sind. Die Sorge um eine stabile Finanzierung von notwendigen Dienstleistungen, die Befürchtung, dass wir in der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft noch langsamer als bisher vorankommen, treiben uns um. Aber die Lebenshilfe ist eine starke Gemeinschaft, mit der wir auch in Zukunft noch viel für die Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen – und vor allem auch gemeinsam mit ihnen – bewegen können und werden. Insofern bleibt die Zuversicht trotz aller Herausforderungen.
Wir nutzen Cookies auf dieser Webseite. Einige von ihnen sind essenziell, während andere uns helfen, diese Website für Sie optimal zu gestalten und weiter zu verbessern.