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WeiterlesenWie in einer kleinen Dorfgemeinschaft kommt es einem an der Georgstraße in Mülheim vor: Auf der überdachten Einkaufsstraße werden rechts Textilien angeboten, links Lebensmittel in einem überdimensionalen Tante-Emma-Laden mit Theke. In der großen Industriehalle sind Möbel vom Sofa bis zum Küchenstuhl ausgestellt, hinten wird Hausrat von der Kaffeetasse bis zur Küchenmaschine verkauft. Ein Restaurant mit Café schließt sich an, im Hintergrund klappern Kochtöpfe, rattern Nähmaschinen und Arbeiter schweißen Metall, hobeln Möbel glatt oder reparieren Elektrogeräte. Was den Ort besonders macht: Alle angebotenen Waren sind gespendet; die beschäftigten Mitarbeiter werden für ihre Tätigkeiten finanziell gefördert. „Im Auftrag der evangelischen Kirche im Rheinland bieten wir seit über 30 Jahren Perspektiven für Menschen, die von Arbeitslosigkeit und individuellen Notlagen betroffen sind“, fasst Ulrich Schreyer, Geschäftsführer der Diakoniewerk Arbeit & Kultur gGmbH in Mülheim an der Ruhr, den Unternehmenszweck zusammen.
Kern des Diakoniewerks Arbeit & Kultur ist das Geschäftsfeld „Integration“; hier werden Mitarbeiter in geförderten Maßnahmen betreut und begleitet, damit sie arbeitsmarktrelevante Schlüsselqualifikationen neu erwerben bzw. optimieren. Schreyer zählt Projekte auf wie Mülheimer Arbeit (AGH), Job Perspektive, Bürgerarbeit sowie Einstiegsqualifizierungsjahr für Jugendliche (EQ). „Dabei arbeiten wir vernetzt mit Kooperationspartnern zusammen, etwa Sozialagentur, Arbeitsagentur, IHK oder Innungen.“ Eingesetzt werden die Mitarbeiter für betriebliche Dienstleistungen wie Abholung von Sachspenden, Transport, Lieferung und Möbelmontage, Service und Renovierung, Textilsammlung und Sortierung, Elektro, Schreinerei, Graffitientfernung und Kantine. „In den Abteilungen leiten ausgebildete Mitarbeiter die Teilnehmer der Maßnahmen an. Wobei ich keinen Unterschied mache: Wir sind ein Team von 350 Kollegen“, betont Ulrich Schreyer.
Wie wörtlich man das nehmen kann, wird beim Rundgang durch die verschiedenen Abteilungen deutlich. Alle Mitarbeiter nennt Schreyer beim Namen, viele kennt er mit ihren persönlichen Lebensgeschichten. Zum Bespiel die Inderin, die Maßnahme für Maßnahme beim Diakoniewerk absolviert, leider immer noch gebrochen Deutsch spricht, aber so etwas für die Gesellschaft leistet. Oder der ehemalige Schlachter, der den Akkord in der Fabrik gesundheitlich nicht mehr schafft und nun in der Metall-Werkstatt arbeitet. „Er hat eine kleine Tochter, für die er da sein möchte und muss – das passt nicht in ein herkömmliches Schichtmodell“, verdeutlicht der Geschäftsführer das Dilemma. Ulrich Schreyer selbst steht auch zwischen den Fronten: Als Sozialreferent der evangelischen Kirche ist er Menschenfreund, der sich der Benachteiligten annimmt; als Arbeitgeber muss er betriebswirtschaftlich denken, um Gehälter zu erwirtschaften und Verpflichtungen einzuhalten.
Die bekannteste Einrichtung des Diakoniewerks Arbeit und Kultur ist die Mülheimer Tafel, die seit September 2000 in Kooperation mit dem Sozialamt der Stadt Mülheim an der Ruhr angeboten wird. Bei der Mülheimer Tafel werden täglich Lebensmittel an rund 400 Menschen verteilt, die sich selbst als bedürftig einstufen. Dazu gehören auch täglich 600 Kinder, die an insgesamt 14 Schulen mit frischem Obst, Backwaren und Schulmaterialien versorgt werden. „Die Verteilung bei der Tafel erfolgt kostenlos, unbürokratisch und ohne schriftlichen Nachweis über ein Vorliegen von Bedürftigkeit“, betont Schreyer einen wichtigen Unterschied zu anderen Tafeln.
Unterstützt wird die Tafel durch Geld- und Sachspenden von Bäckereien, Lebensmittelhändlern und Herstellern, Supermärkten sowie einzelnen Aktionen von Privatpersonen, Kirchengemeinden und Organisationen. Zwei Transporter fahren jeden Tag in zwei Schichten 60 Läden ab. Von Lebensmittelspenden spricht Schreyer, noch immer aufgewühlt von der politischen und medialen Debatte um die Essener Tafel, aber nicht gerne generell: „Wenn die Händler uns nicht die Ware geben, haben sie nur die Möglichkeit, sie wegzuwerfen und müssen dafür Entsorgungsgebühren zahlen.“ So etwa der zu drei Kilo in Plastik verpackte, küchenfertig geschnittene Chinakohl, der an einem Tag im September ausgegeben wurde. „Der stammt aus einem großen Betrieb, der die Gastronomie beliefert. Auch aus Überproduktion von hiesigen Herstellern erhalten wir teils Ware in Top-Qualität“, weiß Schreyer zu berichten.
In der Schlange vor der Ausgabe stehen Eltern am Existenzminimum und Alleinerziehende ebenso wie Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, ältere Menschen mit minimaler Rente, Obdachlose, Sucht-Abhängige oder Menschen mit geringem Einkommen. Sie erhalten in der Regel vom Staat eine Grundsicherung im Alter, wegen Erwerbsminderung oder Arbeitslosigkeit („Hartz IV“) oder eine Aufstockung auf geringes Einkommen, was aber alles sehr knapp bemessen ist. „Das Miteinander klappt gut – auf der anderen Seite der Theke stehen ja häufig selbst Menschen mit diesem Hintergrund, dieser Sprache, diesem Kulturkreis – nur mit dem Unterschied, dass sie gerade selbst bei uns eine geförderte Beschäftigung durchlaufen“, erklärt Schreyer. So begegnen sich alle auf Augenhöhe.
Auch an anderer Stelle schließt sich – zum Wohle der Mülheimer Menschen – der Kreis des gemeinnützigen Unternehmens: 2012 gründete das Diakoniewerk Arbeit & Kultur gemeinsam mit der Stiftung Evangelisches Kranken- und Versorgungshaus die „Evangelisches Hospiz Mülheim an der Ruhr gGmbH“. Die sterbenskranken Menschen werden dort bis zu ihrem Tod begleitet; die komplette Versorgung mit Essen wird von der Kantine an der Georgstraße geleistet. Dort knetet gerade ein junger Mann aus Aserbaidschan, der schon auf einem Passagierschiff gearbeitet hat, den Hefeteig für den Kuchen. Nur ein paar Brocken Deutsch spricht er, weiß in der Küche aber genau, was zu tun ist. Das, was er backt und kocht, findet im Hospiz „echte“ Abnehmer. So ist es halt in dieser Art der Dorfgemeinschaft: Jeder wird gebraucht, man unterstützt sich gegenseitig. Und so kommt man dem Wunsch von Ulrich Schreyer zumindest im Ansatz ein Stückchen näher: „Armut und soziale Spaltung sind die eigentlichen Themen. Sozialpolitik und Bildungspolitik gehören eng zusammen. Ich wünsche mir, dass die Herkunft bald weit weniger stark in Deutschland bestimmt, welche Lebensperspektive man hat.“
Die Große Koalition will 150.000 neue Jobs in einem „sozialen Arbeitsmarkt“ schaffen und mit insgesamt vier Milliarden Euro fördern. Arbeitslose, die mindestens sechs Jahre nicht beschäftigt waren, erhalten fünf Jahre lang einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 100 Prozent. Ein Interview zu diesem „Teilhabechancengesetz“ mit Ulrich Schreyer, Geschäftsführer der Diakoniewerk Arbeit & Kultur gGmbH in Mülheim an der Ruhr.
Herr Schreyer, Sie sind Geschäftsführer eines gemeinnützigen Unternehmens, das z. B. die Mülheimer Tafel betreibt und dort in geförderten Maßnahmen Arbeitslose und Menschen ohne Berufsabschluss oder mit Migrationshintergrund beschäftigt. Damit kennen sie das Klientel, das vom geplanten „Teilhabechancengesetz“ profitieren soll, bestens. Wird das Gesetz gelingen und Teilhabe bringen?
Ulrich Schreyer: Da wird ein alter Hirsch zu frischem Wasser geführt. Es ist aus meiner Sicht naiv zu glauben, das Langzeitarbeitslose z. B. den Pflegenotstand dämpfen werden. Kein Arbeitgeber wird doch einen jahrelangen Arbeitslosen reibungslos einarbeiten, da hilft auch der Gehaltszuschuss nicht. Auch führt die Definition „zusätzliche Tätigkeiten“ zu bürokratischem Irrsinn. Weil ich aber absolut davon überzeugt bin, dass wir besser Arbeit als Arbeitslosigkeit finanzieren sollten, plädiere ich vielmehr für einen sozial finanzierten Arbeitsmarkt.
Wie genau soll dieser sozial finanzierte Arbeitsmarkt aussehen?
Ulrich Schreyer: Wir müssen die Menschen, die seit Jahren vom Arbeitsleben abgekoppelt sind, auf niedrigem Niveau beschäftigen – und zwar mit gesellschaftlich vernünftigen Aufgaben. Ein Beispiel ist unsere Mülheimer Tafel, in der wir nachweisfrei, unbürokratisch und kostenfrei Lebensmittel ausgeben. In geförderten Maßnahmen arbeiten hier Menschen bei der Tafel mit, die sonst selbst in der Schlange ständen. Mir fallen eine Menge solcher gesellschaftlich vernünftiger Aufgaben ein, wenn ich beispielsweise durch die Mülheimer Innenstadt laufe oder an der Ruhr entlang spaziere: Es gibt vermüllte Plätze und wildüberwucherte Stellen. Das könnte von diesen Menschen gegen Bezahlung und im öffentlichen Interesse gepflegt werden.
Nimmt das nicht hiesigen Firmen die Aufträge weg?
Ulrich Schreyer: Ich hatte noch nie Probleme mit irgendeiner Mülheimer Firma. Wir reden auf Augenhöhe über solche Dinge. Es gibt gewiss städtische Aufgaben, um die sich statt der Kommune Menschen in einem sozial finanzierten Arbeitsmarkt kümmern könnten. Wir dürfen nämlich nicht vergessen: Das Klientel etwa leistungsschwacher Schüler oder auch kranker Menschen, die am Rande der Arbeitsunfähigkeit stehen, gab es schon immer. Einfache Arbeitsplätze wie einst im Bergbau gibt es heute nicht mehr. Das ist schon der Preis der Rationalisierung, nicht alle Menschen kommen da mit. Damit es nicht zu einer gesellschaftlichen Spaltung kommt, müssen wir uns dieser Menschen annehmen.
Der Unternehmerverband kritisiert, dass ein sozialer Arbeitsmarkt keineswegs eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt schlägt, sondern dass so Langzeitarbeitslose vielmehr möglichst lange in öffentlich geförderter Beschäftigung geparkt werden.
Ulrich Schreyer: Und deshalb sage auch ich: Die Politik hat bisher nicht das richtige Maß von Fördern und Fordern, von Angeboten und Sanktionen, gefunden. Ich nehme ein anderes Beispiel: den jungen Migranten. Er erhält jetzt Sozialhilfe, eine Wohnung, kostenfreie Bildung und Essen z. B. bei unserer Tafel. Damit hat er schon weitaus mehr als in seinem Heimatland. Warum fordern wir nicht von ihm, dass er nach fünf Jahren in unserem Land Deutsch kann, ohne öffentliche Leistungen auskommt, nicht straffällig geworden ist und sich integriert. Dann soll er auch bleiben können – keine Frage!
Welche Erfahrungen machen Sie mit Ihren Arbeitnehmern in den bisher bereits öffentlich geförderten Arbeitsverhältnissen?
Ulrich Schreyer: Die Menschen gehören durch Arbeit zur Gesellschaft dazu, haben Kollegen und einen Chef. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr sich meine Mitarbeiter freuen, wenn ich ihnen zum Geburtstag eine Karte schreibe! Wenn sie einer sinnvollen Aufgabe nachgehen, verfestigt sich auch nicht ihre Parallelwelt, in der sie abgekoppelt sind, in der sich Feindbilder aufbauen. In unserem Team arbeiten Menschen aller Sprachen, Kulturen und Religionen zusammen – das heißt auch Gruppen, die sich in anderen Ländern bekriegen. Hier gibt es aber keinen Streit, hier klappt es mit der Gemeinschaft – und das eben genau durch das gemeinsame Arbeiten!
Was ist Ihr Appell an die Politik?
Ulrich Schreyer: Die Politik kümmert sich zu viel um sich selbst. Dabei hat schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung Mühe, ein normales Leben zu führen und zu organisieren – ich wünsche mir mehr konkretes Handeln, statt Probleme zu verwalten.
Info
Diakoniewerk Arbeit & Kultur gGmbH
Georgstraße 28
45468 Mülheim an der Ruhr
0208 45953-0
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