[uv]magazin: Herr Professor Di Fabio, im neuen Bundestag sitzt keine liberale Partei mehr. Ist der Liberalismus gescheitert?
Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio: Nein, der Liberalismus ist nicht gescheitert, aber er steckt in einer tiefen Krise. Er droht zwischen den Rändern aufgerieben zu werden – zwischen einem autoritären Populismus, der sich freiheitlicher Rhetorik bedient, und einem linken Dirigismus, der dem Staat wieder nahezu unbegrenzte Gestaltungskraft zuspricht. In dieser Polarisierung bleibt für einen rationalen, staatsskeptischen und dennoch verantwortungsbewussten Liberalismus kaum Raum.
Worin sehen Sie die Ursachen dieser Erosion liberaler Politik?
Die aktuelle politische Kultur verlangt nach schnellen, klaren Antworten. Komplexität, Differenzierung, Ambivalenz – das sind Tugenden liberalen Denkens, aber sie wirken heute oft wie Schwäche. Der politische Raum ist kein Uni-Seminar, sondern eine Arena. Wer dort mit Argumenten statt Parolen arbeitet, hat es schwer. Zudem erleben wir eine Rückkehr des Staates als vermeintlich allzuständige Instanz. In Krisenzeiten – Krieg, Pandemie, Klimawandel – rufen viele reflexhaft nach staatlicher Lenkung. Liberales Denken wird mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt.
Steuern wir auf Weimarer Verhältnisse zu?
Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht eins zu eins, aber Muster kehren zurück. In der Spätphase der Weimarer Republik erlebten wir das Verschwinden des Liberalismus und zugleich eine Radikalisierung des politischen Spektrums. Das ist eine ernste Warnung. Wenn die Mitte inhaltlich ausdünnt, wächst das politische Vakuum – und es wird gefüllt, oft von Kräften, die mit liberal-demokratischen Prinzipien wenig anfangen können.
Welche Rolle spielt der Liberalismus in einer Zeit, in der viele Menschen nach mehr Sicherheit rufen – sozial, wirtschaftlich, kulturell?
Gerade da müsste der Liberalismus deutlich machen, dass Freiheit und Sicherheit kein Widerspruch sind. Der liberale Staat war nie ein Nachtwächterstaat. Er ist ein Rechtsstaat – stark, berechenbar, gerecht. Sicherheit ist eine Voraussetzung von Freiheit, nicht ihr Gegenspieler. Auch soziale Sicherheit darf nicht allein als Umverteilung gedacht werden. Es braucht ein Verständnis von Gerechtigkeit, das Leistung anerkennt und Freiheit nicht durch Überregulierung erstickt.
In einem Ihrer Texte sprechen Sie von einem „Neo-Etatismus“ – was meinen Sie damit konkret?
Ich meine die Illusion, dass der Staat mit Gesetzen und Geld jede gesellschaftliche Herausforderung planmäßig lösen könne. Diese Übersteuerung führt zur Bürokratisierung, zur Entmündigung und am Ende zur Überforderung des Staates selbst. Der Liberalismus erinnert daran, dass es auch auf den Einzelnen ankommt – auf Bürgerstolz, Verantwortung, Innovationskraft. Das ist kein kalter Neoliberalismus, sondern eine vernünftige Form des sozialen und kulturellen Zusammenwirkens.
Braucht es also einen neuen Liberalismus für unsere Zeit?
Unbedingt. Der Liberalismus muss sich aus der Zeit heraus neu begründen – nicht gegen sie. Er braucht ein ökologisches Bewusstsein, das auf Innovation statt Verbote setzt. Er muss die digitale Welt regulieren, ohne die Freiheit des Netzes zu ersticken. Und er muss die kulturellen Konflikte unserer Zeit ansprechen – etwa im Umgang mit Sprache, Identität, Freiheit der Meinung. Wenn der Liberalismus hier nicht mehr die Menschen erreicht, überlassen wir das Feld den Extremen.
Was raten Sie jenen, die den Liberalismus als zu kompliziert oder zu blass empfinden?
Mut zur Unterscheidung. Der Liberalismus darf nicht darauf verzichten, kluge Gedanken differenziert auszusprechen, nur weil sie nicht in ein TikTok-Format passen. Die liberale Demokratie lebt davon, dass sie mehr kann als Schwarz-Weiß. Diese Fähigkeit zur Ambivalenz ist kein Mangel – sie ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Aber dafür braucht es Menschen, die den Mut haben, Freiheit vorzuleben und einzufordern.
Das Interview führte Christian Kleff


Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio
Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio ist einer der renommiertesten deutschen Verfassungsrechtler, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht sowie Professor und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Der gebürtige Duisburger verbindet als Experte zu Fragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation juristische Exzellenz mit scharfsinnigen Analysen aktueller Entwicklungen.
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